Der ehemalige Hubertuszug „Freischütz“ existierte von 1953 bis 2003 – exakt 50 Jahre – und wies einige bemerkenswerte Eigenschaften auf. Da wäre zunächst die Tatsache, dass der Zug eigentlich noch lebt, dennoch zu den ehemaligen Zügen gerechnet wird. Das werden wir den geneigten Lesern gerne im Weiteren erklären.
Gegründet wurde der Zug nach dem Schützenfest 1953, auf dem zum ersten Mal das neuformierte Hubertuskorps in Erscheinung trat. Mit ihren neuartigen Uniformen und den schmissigen Klängen ihres Fanfarenzuges hinterließen sie bei einer Schar junger Handballspieler des VfR Neuss einen riesigen Eindruck. Diese hatten sich vor ihrem Versammlungslokal, dem „Fortitudo“ auf dem Markt, die Parade angeschaut. Bereits am 8. September 1953 schrieben sie einen Brief an den Major der Gesellschaft, mit der Bitte um Aufnahme in die neuformierte Schützengesellschaft. Auf den Aufnahmeanträgen wird als Zugname noch „Schützen-Gilde“ vermerkt, jedoch später durch „Freischütz“ ersetzt.
In späteren Veröffentlichungen und Jubiläums-Chroniken wird das Datum 8. September 1953 um ein Jahr nach vorne gelegt. Das könnte man zunächst einmal für ein Versehen halten. Es vertun sich viele mit Vorgängen in der Vergangenheit und ordnen sie einem falschen Jahr zu. Aber wir werden sehen, dass dem nicht so war. Unter den neuen Mitgliedern war auch der spätere Hubertuskönig 1977/1978 Willibert Fischer (*1934 †2012). Zugführer für die ersten beiden Jahren war Hans Böckendorf. Dieser war einige Jahre älter als seine Zugkameraden, war Kriegsteilnehmer und litt unter den Nachwirkungen einer Kriegsverwundung. Er ließ ab November 1955 seine Mitgliedschaft ruhen. Zwei Versuche, 1956 und 1957, wieder in die Gesellschaft einzutreten, wurden vom Vorstand abgelehnt. Die Hintergründe sind uns nicht bekannt. Für die beiden weiteren Jahre übernahm Helmut Berger das Amt des Zugführers. Über ihn ist uns auch nichts Weiteres bekannt.
Ab Juni 1958 wird Willibert Fischer vom Vorstand als Zugführer adressiert, war also nicht bereits ab 1956 Zugführer, wie später zuweilen auch berichtet wurde. Nun, ab diesem Jahr 1958 haben wir jetzt den Zug „Freischütz“ wie ihn alle älteren Gesellschaftsmitglieder in Erinnerung haben. Willibert Fischer, der unermüdliche und umtriebige Motor des Zuges. Der den Zug 45 Jahre lenken und dominieren wird und der unentwegt neue Mitglieder für den Zug und die Gesellschaft „einfangen“ konnte. Er war ein gelernter Schreiner, der während des Baubooms der 1950er-Jahre zu einer Weltfirma im Aufzugbau wechselte, sich hier weiter qualifizierte und in die Funktion eines Montageinspektors hineinwuchs. Zusätzlich war er auch Betriebsratsvorsitzender (nach Renteneintritt sogar mit einer Beratungsfunktion betraut).
Seine Begabung, neue Leute für seinen Zug zu werben, war erstaunlich
Einmal vernahm ich den Seufzer eines alten Schützen: „Wo holt der Willibert nur die ganzen Leute her?“ Denn es war den anderen Mitgliedern der Gesellschaft schon sehr wohl aufgefallen, dass Willibert Fischer zwar eine riesige Zahl neuer Mitglieder werben konnte, er jedoch auch ebenso sehr viele Leute wieder verlor. Wir können im Hubertusarchiv über 140 (einhundertvierzig) ehemalige Mitglieder des Zuges „Freischütz“ nachzählen und sind sicher, dass uns hier noch ein, zwei Dutzend entgangen sind.
Das Witzige daran ist, dass ehemalige alte „Freischützen“ selbst ungläubig staunen, erstens über die Zahl aber auch über die Namen anderer Ehemaliger („Ach, DER war auch beim Willibert?“). Und hier spricht es für sich selbst, dass man eben nicht vom Zug „Freischütz“ sprach, sondern man sagte „beim Willibert im Zug“. Der Zug „Freischütz“ engagierte sich sehr für die Gesellschaft, er stellte über Jahre die Jagdgehilfen des Hubertuskönigs und war auch über viele Jahre für die Saaldekoration der Hubertusbälle zuständig.
Kommen wir zu den Mitgliedern. Es waren weit über 140 und es sind erstaunlich viele Mitglieder innerhalb der Gesellschaft verblieben. Die Züge „Waldhorn“ und „Doppeladler“ wurden von ehemaligen Freischützen gegründet, die Züge „Quirinusjünger“, „Zwölfender“ und „Goldenes Jagdhorn“ zum großen Teil. Auch der Zug „Germanen“ profitierte von entlaufenen Freischützen. Selbstredend war auch Toni Wiertz, der Rekordhalter an Hubertuszügen (7), dort einige Jahre Mitglied.
Aus dem Zug „Freischütz“ selbst war Willibert Fischer im Jahre 1977/1978 Hubertuskönig. Aber, und das ist Rekord, weitere fünf Hubertuskönige, ein Gildekönig und ein Gnadentaler Hubertuskönig lernten im Zug „Freischütz“ das Schützenleben. Wir zählen auf an Hubertuskönigen neben Willibert Fischer: Manfred Günther (später auch Major), Dieter Wilschrey, Klaus Reinartz, Uwe Kirschbaum, Gert Schroers. Sowie Rolf Klein als Gildekönig und Hubert Wilschrey – das Waldhorn Urgestein – als Gnadentaler Hubertuskönig.
Weitere bekannte Hubertusschützen waren der Redakteur der Hubertuszeitung Reinhard Eck und das bis zu seinem Tode dienstälteste Hubertus-Mitglied Hans Hermes (das letzte Mitglied der Altgesellschaft) sowie Ernst Hufer, der diesen später als dienstältestes Hubertus-Mitglied ablöste.
Woran scheiterte nun der Zug „Freischütz“?
Willibert Fischer, wir hörten es oft von Zeitgenossen und Zugmitgliedern, war ein Mensch, der gerne sein Umfeld dominierte und es mangelte ihm keineswegs an Selbstbewusstsein. Die Vokabel „Diktator“ vernahmen wir nicht selten. Auch ein Vergleich mit herrisch auftretenden Fußballtrainern der ganz alten Schule bietet sich an („Demokratie ist in Ordnung, solange gemacht wird, was ich anordne“). Bei Zugausflügen wurde kontrolliert, ob die Zugkameraden auch zur angeordneten Zeit ihre Nachtruhe antraten, berichtet uns ein ehemaliges Mitglied, heute selbst seit langen Jahren Zugführer. Eine Mitbestimmung war nicht vorgesehen, die Richtung bestimmte nur der Zugführer.
Über einen langen Zeitraum stimmten viele Zugmitglieder mit den Füßen über dieses Verhalten ab, sie verließen nach wenigen Jahren den Zug. Aber sie waren bereits gut mit Begeisterung für unser Korps geimpft. Viele, viele blieben im Korps, gründeten auch gemeinsam eigene Züge. Hier hatte Willibert anscheinend eine gute Saat gelegt. In den 1990er-Jahren bildete sich aber eine Zuggemeinschaft, zumeist aus jüngeren Jahrgängen, die länger zusammenblieb und zunehmend gegen den autokratischen Zugführer Stellung bezog.
Willibert Fischer ließ sich 1988 zum Ehrenoberleutnant ernennen und seinen Sohn Markus zum neuen Zugführer wählen. Eine Erbmonarchie war jetzt allerdings nicht das, was den Zugmitgliedern auf Dauer vorschwebte. Denn weiterhin bestimmte der nunmehrige Ehrenoberleutnant das Zugleben. Im Jahre 1996 war es erst Michael Nijst, der Zugführer wurde und nach nur zwei weiteren Jahren Michael Helten.
Nach der offiziellen Jubelfeier, die man im Frühjahr 2003 im großen Rahmen beging, kumulierte der Ärger der Zugmitglieder über ihren Ehrenoberleutnant. Dieser, so lautete der Vorwurf, hätte sich nur im Glanze der Ehrungen gesonnt, während der Zug nur Kosten und Arbeit zu tragen hatte. Daraufhin platzte eine Zugversammlung durch geschlossenes Verlassen des Raumes.
Eine anschließende Versammlung ohne den Ehrenoberleutnant ließ Pläne reifen, diesem ein letztes Ultimatum zu setzen, sich endgültig aus der Zugführung rauszuhalten. Mittlerweile hatten sie auch den damaligen Major Friedhelm Becker (†) auf ihrer Seite, der kein Interesse daran hatte, einen ganzen Zug wegen der Sturheit eines altgedienten Zugführers zu verlieren.
In einer außerordentlichen Versammlung im Hause eines älteren Mitglieds wurden jetzt „Nägel mit Köpfen“ gemacht. Der Beschluss lautete, die Zugführung ausschließlich und vorläufig auf die aktuellen Chargierten zu übertragen. Dem Ehrenoberleutnant wird angeboten als passives Mitglied an Zugveranstaltungen teilzunehmen, was eine Teilnahme an Schützenfest ausschloss. Dies geschah im Hinblick darauf, dass der Zug „Freischütz“ mit seiner 50-jährigen Geschichte erhalten bleibt. Dieses Angebot nahm Willibert Fischer nicht an.
Ein neuer Zug mit dem sinnigen Namen „Phönix“
Die nun aus dem Zug „Freischütz“ ausgetretenen Mitglieder gründeten mit Zustimmung des Majors einen neuen Zug, dem sie den sinnigen Namen „Phönix“ verliehen. Zum ersten Zugführer wurde Günter Krause gewählt, der mittlerweile von Thomas „Bibi“ Weiß abgelöst wurde. Eine Tradition des alten Zuges behielten die Männer von „Phönix“ bei. Seit den 1980er-Jahren pflegten die „Freischützen“ eine Zugfreundschaft mit dem Further Hubertuszug „Springender Hirsch“. Man nimmt wechselseitig mit rund einem halben Dutzend Gastmarschierer an beiden Schützenfesten teil.
Im Jahre 2003, exakt 50 Jahre nach Zuggründung, beinahe in der gleichen Woche, wurde das Aus des Zuges durch die Neugründung des Zuges „Phönix“ besiegelt. Ich glaube, das nennt man einen Treppenwitz der Geschichte. Willibert Fischer erhielt das Silberne Verdienstkreuz, den Hohen Bruderschaftsorden und das Sankt-Sebastianus-Ehrenkreuz. Als Höhepunkt der Ehrungen im Jahr 2002 das Schulterband zum Sankt-Sebastianus-Ehrenkreuz. Er starb am 6. Januar 2012 im Alter von 77 Jahren.
Viktor Steinfeldt